Tracey Emin – Großbritanniens polarisierende Allround-Künstlerin

Tracey Emin – Großbritanniens polarisierende Allround-Künstlerin

25.04.22
Kunsthaus ARTES
Kunstgeschichte Künstler

Seit rund 30 Jahren sorgt die britische Künstlerin Tracey Emin für ordentlich Wirbel in der Kunstszene – und ist damit auch noch höchst erfolgreich. Ihre erste Soloausstellung 1993 in London trug den ironischen Titel „My Major Retrospective“ und auch der weitere Verlauf ihrer Karriere war nicht gerade von Zurückhaltung geprägt. Ganz im Gegenteil: Offensiver und schonungsloser ist kaum eine andere Künstlerin oder ein anderer Künstler mit der eigenen Biografie in der künstlerischen Arbeit umgegangen. Ihr höchst vielfältiges und oft provokantes Werk hat ihr unter anderem unzählige Ausstellungen in Kunsthäusern auf der ganzen Welt, eine Professur, einen Ritterorden, einen Ehrendoktor und Auktionserlöse in schwindelerregenden Höhen eingebracht.

 

Aus dem Underground an die Spitze der Gegenwartskunst 

Tracey Emin wurde 1963 in London geboren und wuchs in Margate bei ihrer alleinerziehenden Mutter in ärmlichen Verhältnissen auf. Sie studierte in den 1980er-Jahren zunächst am Maidstone College of Art, später am Royal College of Art in London. Im Lauf ihrer Karriere entwickelte sie ein höchst facettenreiches multimediales Gesamtwerk mit Gemälden, Zeichnungen, Skulpturen, Lichtobjekten, Videos, Fotografien, Installationen und vielem mehr. In London schloss sie sich den „Young British Artists“ an – jener berühmt-berüchtigten Künstlergruppierung, die weder vor der Provokation noch vor der Kommerzialisierung ihrer Kunst zurückschreckte.
Im Underground gestartet, gehörte Tracey Emin bald zum Kunst-Establishment. 2007 wurde sie Mitglied der Royal Academy of Arts und bespielte im selben Jahr den Britischen Pavillon bei der Biennale in Venedig. 2011 wurde sie als Professorin für Zeichnung an die Royal Academy of Arts in London berufen und 2013 zum „Commander of the Most Excellent Order of the British Empire“ ernannt. Seit 1992 stellt sie ihre Werke weltweit aus, unter anderem hatte sie Solo-Shows im Musée d'Orsay, Paris, in der Tate Britain, London, im Kunstmuseum Bern, im Centro de Arte Contemporáneo Málaga, in der National Gallery of Modern Art Edinburgh, im Museo de Bellas Artes Santiago/Chile, im Platform Garanti Contemporary Art Center Istanbul, in der Art Gallery of New South Wales Sydney und im Sagacho Exhibition Space Tokyo. Tracey Emin gehört heute zu den bestbezahlten Künstlerinnen Großbritanniens, sie lebt und arbeitet in London.

 

Die eigene Lebensgeschichte als Kunstkonzept

Tracey Emin bezeichnet ihre Kunst als „Living Autobiography“. Ihr gesamtes Werk steht im Zeichen ihrer Lebensgeschichte. Dabei macht Emin keinen Hehl daraus, dass die Kunst für sie einen großen therapeutischen Charakter hat. „Ich habe nur dank der Kunst überlebt. Sie gab mir den Glauben an meine eigene Existenz“, hat sie einmal gesagt. Da überrascht es nicht, dass sie vor allem die dunklen Seiten ihrer Biographie in ihrer Kunst thematisiert. Ihre künstlerische Ausdrucksweise ist dabei höchst explizit, offenherzig und provokant. Das Publikum konfrontiert sie zum Beispiel schonungslos mit ihrem Liebesleben, Alkoholexzessen, sexuellem Missbrauch und Abtreibung. Aber ihre Arbeiten erzählen durchaus auch von den positiven Seiten des Lebens wie Liebe, Erfolg und Hoffnung. Doch Tracey Emin verarbeitet in ihrer Kunst nicht nur ihre schwierige Lebensgeschichte, sondern erforscht allgemein die Komplexität der menschlichen Psyche und diskutiert Aspekte des Feminismus.

Emins Werke sind nicht immer leicht anzusehen und manchmal auch verstörend, aber oftmals auch sehr humorvoll und ironisch. Gewiss aber ist, dass Emin es immer schafft, das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Mit zunehmendem Alter ist Emin allerdings auch weniger aggressiv und allgemein etwas ruhiger geworden. Sie sei nach eigener Aussage in einer neuen Lebensphase angekommen. Durch die Werke der vergangenen Jahre weht tatsächlich erkennbar der Wind der Altersmilde, denn sie sind deutlich toleranter, einfühlsamer und demütiger. In dieses Bild passt auch eine Arbeit, die sie 2018 für Sydney entworfen hat. Unter dem Titel „The Distance of Your Heart“ hatte sie an verschiedenen Orten der Stadt 60 kleine Vögel aus Bronze installiert.

Original-Lithografie, 2019. Auflage: 200 Exemplare auf Papier, nummeriert, datiert und handsigniert.
Tracey Emin: "I loved my Innocence" (2019) - Original-Lithografie, 2019. Auflage: 200 Exemplare auf Papier, nummeriert, datiert und handsigniert. 

 

 

Ein Zelt, ein Bett und andere Meilensteine ihrer Karriere

Möchte man die entscheidenden Momente in der Karriere Tracey Emins benennen, kommt man um zwei ihrer Arbeiten nicht herum, die ihr zu nachhaltiger Bekanntheit verhelfen sollten. Für Furore sorgte sie bereits 1995 mit einer ihrer frühen Arbeiten. Unter dem Titel „Everyone I Have Ever Slept With 1963–1995“ hatte sie ein Camping-Zelt aufgestellt, in dessen Stoff die Namen aller Menschen eingestickt waren, mit denen sie jemals das Bett geteilt hatte. Hier waren sowohl ihre Sexualpartner als auch die Namen ihrer beiden ungeborenen Föten sowie der ihrer Großmutter aufgeführt. Nicht nur unter den namentlich Genannten sorgte dieses Werk für große Empörung. Allerdings wurde diese Arbeit bei einem Lagerhausbrand im Jahr 2004 zerstört. Nicht weniger provokativ und ebenfalls biografisch geprägt war Emins Installation aus dem Jahr 1998, die schlicht mit „My Bed“ betitelt war. Diese heute wohl bekannteste Arbeit zeigte ein durchwühltes Bett nach einer ihrer einwöchigen depressiven Phasen, so die Künstlerin. Am und über das Bett waren benutzte Kondome, getragene Unterwäsche, Zigarettenkippen und Wodkaflaschen verteilt. Für viele Zuschauerinnen und Zuschauer bedeutete dies einen Zentralangriff auf die Sinne und den guten Geschmack. Wie so oft reagierte die Kunstwelt aber entzückt. „My Bed“ brachte Emin eine Nominierung für den renommierten Turner Prize ein, es wurde in verschiedenen Kunsthäusern ausgestellt und schließlich 2014 bei Christie's für 3,2 Millionen Euro verkauft.

In den vergangenen Jahren waren es vor allem zwei Ausstellungen, die weitaus weniger skandalträchtig waren. 2016 realisierte das Leopold Museum in Wien eine umfassende Ausstellung der britischen Künstlerin mit mehr als 80 Exponaten. Das Besondere: Ihre Arbeiten wurden in einen Dialog mit Werken der Expressionisten-Legende Egon Schiele gestellt, die sie selbst ausgewählt hatte. Ein ähnliches Konzept verfolgte sie 2021, als sie gemeinsam mit einer weiteren Ikone der Kunstgeschichte ausstellte, in die sie nach eigener Aussage verliebt gewesen sei, seit sie 18 Jahre alt war: Edvard Munch. Unter dem Titel „The Loneliness of the Soul“ wurde für die Royal Academy in London eine Doppelausstellung mit Arbeiten des norwegischen Malergenies konzipiert – offenkundig trafen hier zwei Seelenverwandte der Kunst aufeinander. 

Tracey Emin bei Kunsthaus ARTES